Kinderwunsch

Mit dem Rollstuhl zur Geburt

Trotz Behinderung können querschnittgelähmte Frauen eine normale Schwangerschaft haben. Isabelle Lamontagne-Müller und Therese Kämpfer, beide querschnittgelähmt, haben sich ihren Kinderwunsch erfüllt und erzählen von ihren besonderen neun Monaten.

 

Von Maribel López

Hält eine Frau im Rollstuhl ein Kind im Arm, wird sie selten als die Mutter angesehen. Der Gedanke, dass Behinderte eigene Kinder haben, liegt fern. Doch trotz Querschnittlähmung werden betroffene Frauen normal schwanger.

 

«Ich glaube, ich habe sämtliche Schwangerschafts-Symptome, die eine Frau haben kann. Sechs Monate lang war mir übel, ohne Medikamente konnte ich kein einziges Glas Wasser bei mir behalten. Jetzt im neunten Monat geht es wieder los», sagt Isabelle Lamontagne-Müller und lacht dabei. Die 40-jährige ist eine von vielen Frauen, die ihren Kinderwunsch trotz Behinderung und Vorurteilen in der Gesellschaft, nie aufgegeben hat. Sie lag nach ihrem Skiunfall erst kurze Zeit auf der Intensivstation, als sie ihren Arzt fragte: «Kann ich noch Kinder bekommen?» Der weibliche Zyklus und die Hormone werden von der Lähmung längerfristig nicht beeinflusst - eine Para- oder Tetraplegikerin kann schwanger werden. Nimmt die Frau Medikamente ein, sollte sie ihren Kinderwunsch mit ihrer Ärztin oder ihrem Arzt besprechen. «Ein Medikament alleine ist meist kein Problem. Doch bei Kombinationen weiss man oft nicht, zu welchen Wechselwirkungen sie führen können», sagt Eduard Infanger, Chefarzt für Gynäkologie im Spital Sursee und zuständiger Arzt für das Paraplegikerzentrum in Nottwil.

 

Wie kann ich das Kind heben?

Auch Isabelle Lamontagne war betroffen. In Absprache mit ihrem Arzt setzte sie das Medikament ab. Dabei erlebte sie eine kleine Überraschung: «Es war gar kein so grosser Unterschied mit oder ohne Medikament. Die Nebenwirkungen haben mich mehr gestört.» Mit der Schwangerschaft kommen viele Fragen. Gibt es Probleme wegen der Behinderung? Was ist, wenn der Rollstuhl zu klein wird? Woher bekommt der Frauenarzt die nötigen Informationen? Andere Fragen beschäftigen sich mit der Zeit nach der Geburt. Wo bekomme ich rollstuhlgerechte Kindermöbel? Wie kann ich ohne Rumpfmuskulatur das Kind aus dem Bett heben? Isabelle Lamontagne hofft, auf ihre Fragen im Paraplegikerzentrum in Nottwil Antworten zu bekommen. Doch die Person am Telefon ist mit den Fragen überfordert. Irgendwann fällt ein Name: Therese Kämpfer. Mit ihr führte Isabelle Lamontagne ein erstes langes Telefongespräch.

 

Bewunderung oder Abneigung

Therese Kämpfer arbeitet in der Abteilung Wissensmanagement des Paraplegikerzentrums in Nottwil. Sie ist selber Tetraplegikerin und hat zwei Kinder. Ihren Sohn bekam sie vor 18 Jahren. Da war sie schon seit sechs Jahren im Rollstuhl. Sie hatte die Schwangerschaft nicht geplant, war aber überaus glücklich darüber. Die Reaktionen ihrer Mitmenschen waren sehr verschieden. Von Freude und Bewunderung bis hin zu bösartigen und verletzenden Bemerkungen bekam sie alles zu hören. Ihr Arzt und die Hebamme hatten keine Ahnung über die spezifischen Probleme einer schwangeren Querschnittgelähmten. Gemeinsam improvisierten sie, wo es nötig war. Als Therese Kämpfer eines Tages ihren Gynäkologen fragte, wie sie überhaupt die Wehen spüren würde, zuckte dieser mit den Schultern und sagte: «Vielleicht haben sie plötzlich ein schreiendes Baby zwischen den Beinen». Diesen lockeren Umgang mit unbeantwortbaren Fragen schätzte Therese Kämpfer, die vor dem Unfall als Kinderkrankenschwester gearbeitet hatte, sehr. Doch trotzdem getraute sie sich kaum, Fragen zu stellen. «Ich hatte das Gefühl, kein Recht auf Fragen und Ängste zu haben. Heute sehe ich das anders. Behinderte Frauen haben ein Recht auf eigene Kinder und auf eine kompetente Betreuung und Beratung.»

 

Internet-Treffpunkt gegründet

Durch ihre Arbeit in Nottwil erlebt sie, dass immer noch viele Fragen unbeantwortet bleiben. Sie gründete vor zwei Jahren den Internet-Treffpunkt für Frauen im Rollstuhl. Hier finden auch schwangere querschnittgelähmte Frauen Hilfe. Therese Kämpfer sagt: «Es macht keinen Sinn, dass jede werdende Mutter das Rad neu erfinden und alleine in schlaflosen Nächten nach Lösungen suchen muss.» Auch Isabelle Lamontagne sucht den Kontakt zu diesen Müttern. Einige erzählen ihr, wie sie neun Monate lang inkontinent waren, andere wie die Rückenschmerzen verschwanden oder die Spastik stärker oder schwächer wurde. Sie sagt: «So verschieden jede Schwangerschaft bei jeder einzelnen Frau ist, so verschieden wirkt sich diese auch auf die Querschnittlähmung aus.» Bei den vielen Fragen hilft Isabelle Lamontagne ihre Ausbildung als Apothekerin. Stundenlang recherchiert sie im Internet und sammelt medizinische Fakten. Damit stellt sie ein Dossier zusammen, welches sie ihrem Frauenarzt weitergibt.

 

Gefahr einer Thrombose

Bedingt durch die Lähmung hat eine schwangere Querschnittgelähmte ein grösseres Risiko, eine Thrombose zu bekommen. Um diese Gefahr zu mindern, empfehlen Ärzte den Frauen, sich ab dem vierten Monat täglich ein Antithrombose-Mittel zu spritzen. Nach vielen Stunden im Internet und Gesprächen mit anderen querschnittgelähmten Müttern ist Isabelle Lamontagne überzeugt: «Eine Schwangerschaft mit Querschnittlähmung ist nicht viel anders als bei einer Fussgängerin.» Bis Ende des achten Monats arbeite sie hundert Prozent. Der stets dickere Bauch, die Gewichtszunahme und die Lähmung erschweren die Mobilität. Isabelle Lamontagne reduziert ihr Pensum und will bis zur Geburt halbtags arbeiten. Sie kümmert sich bei einer Non-Profit-Organisation, die Forschung bei Brustkrebs betreibt, um die Spendenorganisation. Daneben besucht sie eine Weiterbildung. Zum Ausgleich betreibt sie regelmässig Sport. «Bis in den dritten Monat hinein spielte ich Rollstuhltennis und machte Krafttraining», erzählt sie. Einen kurzen Moment ist Isabelle ganz ruhig. Danach sagt sie: «Es ist schon erstaunlich, was der Körper trotz der Ausfälle der Paraplegie zustande bringt». Sie legt die Hand auf den Bauch und erzählt, wie schön es war, als sie ihr Kind das erste Mal spürte. Ihre Dankbarkeit, dass dies ihr aufgrund der tief gelegenen und unvollständigen Lähmung möglich ist, ist spürbar. Die sportliche Bewegung fehlt ihr. Sie beginnt zu schwimmen. «Ich liebe es im Wasser zu sein, am liebsten würde ich im Wasser gebären», sagt sie. Ob dieser Wunsch in Erfüllung geht, wird sich zeigen. Sicher ist, dass Para- oder Tetraplegikerinnen normal gebären können. Damit Therese Kämpfer die Wehen rechtzeitig spüren würde, lernte sie, ihre Hand auf den Bauch zu legen und zu fühlen, ob er hart wird. Verhärtet sich der Bauch rhythmisch, um sich bald darauf wieder zu entspannen, ist es Zeit zur Klinik zu fahren. Therese Kämpfer bekam plötzlich Kopfschmerzen und ein hochrotes Gesicht. Das sind Zeichen einer autonomen Hyperreflexie, einer Fehlregulation des Nervensystems. Diese treten vor allem bei Tetraplegikerinnen auf, deren Lähmung oberhalb des sechsten Brustwirbel beginnt.

 

Die Geburt ist meist schmerzlos

Vor 18 Jahren wusste niemand, was los war. Der Blutdruck von Therese Kämpfer stieg, der Puls fiel. «Ich hatte viel Glück», meint sie, «es hätte zu einem epileptischen Anfall oder sogar zu einer Hirnblutung kommen können.» Heute ist bekannt, dass diese Fehlregulation mit einer Periduralanästhesie relativ einfach verhindert werden kann. Die Geburt selber ist je nach Lähmungshöhe schmerzfrei, und kann so für die Frau ein schönes Erlebnis sein. Therese Kämpfer erzählt: «Da ich mit der Bauchmuskulatur nicht pressen konnte, drückte die Hebamme mit ihren Händen auf dem Bauch das Kind nach unten.» Kurz darauf hielt sie ihren Sohn in den Armen.

 

Quelle: Diesen Text hat Maribel López im Rahmen ihrer Ausbildung an der Medienschule St. Gallen geschrieben.